Schach-WM 2021, die jetzt schon legendäre 6. Partie: 136 Züge für die Ewigkeit.

Am Freitag, den 3. Dezember 2021 wurde Schachgeschichte geschrieben: Die 6. Partie des WM-Kampfes zwischen Magnus Carlsen und Ian Nepomniachtchi brach gleich mehrere Rekorde. Mit 136 Zügen war es die längste Partie der WM-Geschichte; und sie dauerte ohne Unterbrechungen sieben Stunden und 47 Minuten am Brett und endete erst 17 Minuten nach Mitternacht (Ortszeit in Dubai), d.h. sozusagen am nächsten Tag!

Ein echter Schachmarathon, bei dem die beiden Spieler wahrlich bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit (und Leidensfähigkeit) gingen, und aus dem der Weltmeister Magnus Carlsen als glücklicher Sieger hervorging – jedoch weniger durch einen „lucky punch“, sondern durch bewundernswerte Kondition und geduldiges Arbeiten (Kneten, Mahlen, Schleifen, Steine klopfen oder wie immer es sich anfühlen mag), kombiniert mit technischer Präzision.
Aber auch Nepo hatte durchaus Chancen, das Spiel eventuell zu seinen Gunsten zu entscheiden, die er aber nicht nutzte.

Doch der Reihe nach, einschließlich der vollständigen Partienotation:
Nachdem die ersten 5 Partien jeweils Unentschieden endeten und beide Kontrahenten noch nicht allzuviel riskiert hatten, hoffte das Publikum nach dem vorangegangen Ruhetag, dass es nun endlich richtig zur Sache gehen würde. Diese Erwartungen wurden erfüllt, aber sicherlich anders als vorhergesehen. Magnus eröffnete wie in der turbulenten zweiten Partie erneut mit dem Damenbauern und strebte eine katalanische Stellung an, allerdings mit einer ungewöhnlichen Zugfolge: Der c-Bauer wurde von ihm zunächst zurückgehalten und erstmal mittels g2-g3 der Königsläufer von f1 nach g2 entwickelt, dann sofort kurz rochiert und anschließend erst noch mit b3 der ein eventuelles „Fianchetto“ des zweiten weißen Läufers nach b2 sowie c2-c4 vorbereitet:
1.d4 Sf6 2. Sf3 d5 3. g3 e6 4. Lg2 Le7 5. O-O O-O 6. b3 …
Das wird laut Datenbank selten gespielt (hätte aber bei uns im Verein aber auch von Herbert Niedergesäß kommen können, der ist allerdings nachweislich gerade nicht Sekundant von Magnus in Dubai… ). Doch Carlsen setzt noch einen drauf und wird jetzt richtig kreativ:
6…c5 7. dxc5 Lxc5 8. c4 dxc4 9. Dc2 !?
Der c-Bauer wird nicht gleich zurückgeschlagen, und wenn Schwarz jetzt auf b3 weiterschlägt, verliert er den Läufer c5, deshalb deckt er diesen zunächst mit
9. De7 10. Sbd2 !!?
Weiß ist bereit, den c-Bauern für bessere Figurenentwicklung zu opfern, der Weltmeister hatte also offensichtlich etwas ganz besonders ausgetüftelt, um den Gegner zum frühen Nachdenken zu zwingen. Doch tatsächlich geschah das Gegenteil: Nepo antwortete stark mit
10… Sc6 11. Sxc4 b5 ! – ein mutiger offensiver Zug von Schwarz mit dem Carlsen wohl nicht wirklich gerechnet hatte – interessanterweise sagte er nach der Partie, dass er „seine Vorbereitung dazu vergessen hatte“ – schwer zu glauben, aber menschlich Jedenfalls musste Carlsen ab hier selbstständig überlegen – und verbrauchte deutlich mehr Zeit. Indem Nepo hier zuerst den Sc5 und dann die weiße Dame angreift und diese zum Ausweichen auf weniger gute Felder zwingt, verschafft er sich genau die Atempause die er braucht, um seine Figurenentwicklung abzuschließen. Der Versuch von Carlsen, seinen Gegner in der Eröffnung zu überlisten, kann also vorerst als gescheitert betrachtet werden… die Entscheidung fällt erst später (sehr viel später!).
12. Sce5 Sb4 13. Db2 Lb7 14. a3 .. Carlsen entscheidet sich für eine vorsichtige Spielweise.
Hier hätte Weiß mit 14. Lg5!? interessante Verwicklungen schaffen können, nach 14. h6 ist sogar das Opfer 15. Lh4 gut spielbar, z.B. 16. a3 Sbd5 17. Sxg5 hxg 18.Lxh5 Dc7 19..Lh6 usw., wobei der materielle Nachteil von Weiß durch die fehlende schwarze Königssicherung (die Bauern g7, h7 fehlen) mindestens kompensiert wird.
14.. Sc6 15. Sd3 Rückzug, um Figurenabtausch auf e5 und g2 zu vermeiden – Carlsen möchte das Spiel kontrollierbar halten und nicht zuviel riskieren; anderseits aber auch nicht zu sehr vereinfachen. Natürlich kommt es in den nächsten Zügen doch zum Abtausch, Weiß versucht jedoch, die Bedingungen ein wenig zu seinen Gunsten zu verbessern.
15.. Lb6 16. Lg5 Tfd8 17. Lxf6 gxf6 !?
Damit zeigt Nepo, dass er sich mit einem Remis nicht zufrieden ist. Der Damentausch nach 17…Dxf6 18. Dxf6, da waren sich die Kommentare einig, hätte Schwarz keine Probleme bereitet und wohl zum Remis geführt. Überhaupt deutete zu diesem Zeitpunkt noch wenig auf eine langen Kampf hin, sondern die meisten erwarteten ein baldiges Unentschieden. Im offiziellen FIDE-Live Stream mit Vishy Anand und Anna Muzychuk wurde schon mal über das Abendessen geredet, und auch im deutschen Livechat von GM Klaus Bischoff bei Chessbase.de hatte das Publikum genügend Zeit für Bemerkungen zu belanglosen Themen (z.B. Regierungswechsel in Österreich/Deutschland).
18. Tac1 Sd4 19. Sxd4 Lxd4 20. Da2 Lxg2 21. Kxg2 Db7+ 22. Kg1 De4 23. Dc2 a5 24. Tfd1 Kg7 (24…f5 war objektiv besser, weil dadurch u.a. dem schwarzen Läufer der Weg auf das gute Feld f6 eröffnet wird.)
25. Td2 Tac8 !??
Nepo trifft eine folgenschwere Entscheidung: Er bietet den Tausch seiner beiden Türme gegen die Dame von Carlsen an. Dadurch entsteht eine asymmetrische Stellung mit ungleichem Material, was die Chancen erhöht, dass dieses Spiel nicht Remis endet. Allerdings muss Schwarz wohl mehr aufpassen, in dieser Situation keinen Fehler zu machen, weil hier die Dame alles alleine richten muss, während Weiß mit seinen Türmen flexibler ist und mehr Druck aufbauen kann. Mit 25. ..b4 hätte Schwarz ein leichteres Leben gehabt.
26. Dxc8 Txc8 27. Txc8 Dd5 28. b4 a4 29. e3 Le5?!
Hier verpasst Schwarz eine Gelegenheit zur Vereinfachung, 29…Lb2 erzwingt Tausch des Läufers gegen den Springer, danach hat eher Weiß Mühe, das Gleichgewicht zu halten und nach dem zu erwartenden Tausch der beiden a- und b- Bauernpaare geht es klar Richtung Remis.
30. h4 h5 (auch jetzt ging noch 30. ..Lb2 gut für Schwarz) 31. Kh2 Lb2? nun also doch der schon eben erwartete Läuferzug, aber genau im falschen Augenblick, d.h. einen Zug zu spät – doch beide Spieler haben nur noch wenige Minuten Bedenkzeit auf der Uhr bis zum 40. Zug, daher findet Magnus Carlsen hier nicht den zugegeben sehr versteckten Gewinnweg.
32. Tc5 Dd6 33. Td1?
Richtig war jetzt Tcc2! Lxa3 34. Sf4 Db4 35.Td7 e5 36. Sh5 Kg6 37. Tc6! Kxh5 38. Txf7 und Weiß schlägt weiter mir den Türmen auf f6 und droht den schwarzen König mattzusetzen, was Schwarz nur durch Figurenopfer verhindern kann – weil sein König am Rand eingesperrt ist und Dame und Läufer zu weit weg sind, um rechtzeitig zu Hilfe zu eilen. Wahnsinn! Aber leider hatte Carlsen nach eigenen Angaben Tcc2 nicht auf dem Schirm gehabt, und auch keine Zeit mehr für lange Berechnungen. Nach 33. Td1 steht nun Schwarz leicht besser
33…Lxa3 34. Txb5 Dd7 35. Tc5 e5?!
Hier hatte Schwarz die Chance, mit …Lxb4 im Vorteil den Mehrbauern zu behalten, wonach Weiß mit Mühe ums Remis kämpfen muss.
36. Tc2 (besser war 36. e4) Dd5 (wechselseitige Ungenauigkeiten in höchster Zeitnot: wiederum wäre …Lxb4 für Schwarz gut gewesen: 37. Tc1 La3 38.Ta1 Dg4! und Schwarz bleibt im Vorteil)
37. Tdd2 Db3 38. Ta2 e4? (.. deutlich besser war f5!, gefolgt von f4, und mit dem Aufbrechen der weißen Bauernfwstung am Königsflügel hätte Schwarz sicher Remis halten können) 39. Sc5 Dxb4 40. Sxe4 ? (Der letzte Zug von Carlsen vor der Zeitkontrolle, und nochmal verpasst er eine Gewinnchance: 40. Tdc2! z.B. f5 41. Sxa4! Weiß schlägt hier mit dem Springer nicht wie in der Partie zuerst den e4-Bauern, sondern den gefährlichen a-Bauern vom Brett, und gewinnt nach Dxa4 Tc3 den Läufer zurück, und aufgrund der besseren Bauernstellung am Königsflügel kann Weiß hier gewinnen und am Schluss ein gewonnenes Bauernendspiel erreichen – wie, das zeigte GM Niklas Huschenbeth in seiner Videoanalyse (siehe dort bei 17:50 bis 19:14 min).
40. Db3 (letzter Zug von Nepo vor der Zeitkontrolle mit gerade noch 6 sec auf der Uhr! Nun bekommen beide Spieler wieder eine Stunde Bedenkzeit extra dazu, und das Spiel wird erstmal wieder ruhiger(
41. Tac2 Lf8 42. Sc5 Db5 43. Sd3 a3 44. Sf4 Da5 45. Ta2 Lb4 (Schwarz hat seinen Bauern auf a3 stabilisiert und gesichert, Weiß versucht weiter, diesen unangenehmen schwarzen Bauern, der irgendwie vom Brett runter zu bringen, dazu muss er seinen Springer in Richtung a3 bewegen)
46. Td3 Kh6 47. Td1 Da4 48. Tda1 Ld6 49. Kg1 Db3 50. Se2 Dd3 51. Sd4 Kh7 52. Kh2 De4 ? (Schwarz erlaubt ohne Not eine Kombination, mit der Weiß den Bauern a3 bekommt – es war besser, mit Kg6 abzuwarten, wonach Weiß sich schwer tut, sein ziel auf a3 zu erreichen).
53. Txa3! Wenn Schwarz jetzt auf a3 den Turm schlägt und dafür seinen Läufer hergibt, erhält Weiß mit Turm, Springer und den verbundenen Bauern eine Gewinnstellung, in welcher er über kurz oder lang auch noch die schwarzen Bauern auf der f- und h-Linie erobert und die schwarze Dame dann allein gegen alle weißen Figuren kämpft und die Umwandlung eines weißen nicht verhindern kann. Darauf lässt Nepo sich natürlich nicht ein und schlägt statt dessen den weißen h-Bauern, der aber in dieser Stellung weniger stark ist als sein a-Bauer. Trotzdem bleibt die Stellung in den folgenden Zügen nah am Ausgleich.
53.. Dxh4+ 54. Kg1 De4 55. Ta4 Le5 56. Se2 Dc2 57. T1a2 Db3 58. Kg2 Dd5+ 59. f3 Dd1 60. f4 Lc7
61. Kf2 Lb6 62. Ta1 Db3 63. Te4 Kg7 64. Te8 f5 65. Taa8 Db4 66. Tac8 La5 67. Tc1 Lb6 68. Te5 Db3 69. Te8 Dd5 70. Tcc8 Dh1 Weiß versucht über schwarze Grundreihe den gegnerischen König anzugreifen, während Schwarz seinerseits mit der Dame über Hauptdiagonale kontert.
71. Tc1 Dd5 72. Tb1 (hier stand mit Tcc8 eine Zugwiederholung im Raum, doch Magnus versucht weiter auf Sieg zu spielen) La7 73. Te7 Lc5 74. Te5 Dd3 75. Tb7 Dc2 76. Tb5 La7 77. Ta5 Lb6 78. Tab5 La7 ? Das war der falsche Läuferzug, der nun Weiß einen zwingenden Abtausch des Turms gegen den Läufer und Bauern erlaubt, wodurch sich die weißen Chancen erhöhen:
79. Txf5 Dd3 80. Txf7+ Kxf7 81. Tb7+ Kg6 82. Txa7
Nun muss Weiß kaum noch fürchten, das Spiel zu verlieren, sondern kann in Ruhe Gewinnpläne schmieden und nach und nach seine Position verbessern, während Schwarz nur noch verteidigen und auf Remis spielen kann. Nichtsdestotrotz zeigen die Computer-Enginene hier die ganze Zeit eine Remis-Stellung bzw „0.0“ an. Aber in menschlich-psychologischer Hinsicht hat hier Weiß klar die besseren Karten.
79. Dd5 83. Ta6+ Kh7 84. Ta1 Kg6 85. Sd4 Db7 86. Ta2 Dh1 87. Ta6+ Kf7 88. Sf3 Db1 89. Td6 Kg7 90. Td5 Da2+ 91. Td2 Db1 92. Te2 Db6 93. Tc2 Db1 94. Sd4 Dh1 95. Tc7+ Kf6 96. Tc6+ Kf7 97. Sf3 Db1 98. Sg5+ Kg7 99. Se6+ Kf7 100. Sd4 Dh1 101. Tc7+ Kf6 102. Sf3 Db1 103. Td7 Db2+ 104. Td2 DL1 105. Sg1 Db4 106. Td1 Db3 107. Td6+ Kg7 108. Td4 Db2+ 109. Se2 Db1 110. e4 Dh1 111. Td7+ Kg8 112. Td4 Dh2+ 113. Ke3 h4 114. gxh4 Dh3+ 115. Kd2 Dxh4
Nach dem Abtausch des letzten schwarzen Bauern ist diese Stellung ist laut „Tablebase“ (Datenbank mit allen Stellungen mit maximal 7 Steinen) Remis – aber eben nur für einen fehlerfrei spielenden Computer, der jeweils den besten Zug findet – hier aber haben wir es immer noch mit Menschen zu tun, denen jetzt erneut die Zeit davon läuft ..
116. Td3 Kf8 117. Tf3 Dd8+ 118. Ke3 Da5 119. Kf2 Da7+ 120. Te3 Dd7 121. Sg3 Dd2+ 122. Kf3 Dd1+ 123. Te2 DL3+ 124. Kg2 DL7 125. Td2 DL3 126. Td5 Ke7 127. Te5+ Kf7 128. Tf5+ Ke8 129. e5
Die Stellung ist immer noch objektiv Remis; aber Weiß hat einen optimalen Aufbau seiner Figuren erreicht und rückt jetzt langsam vor, was Schwarz nur mit Schachgeboten durch die Dame nur mühsam verhindern kann.
Da2+ 130. Kh3 De6?? Der letzte und spielentscheidende Fehler – Schwarz musste mit Dc1 und dann Df1 die weißen Figuren, insbesondere den Springer von hinten angreifen, um so den weiteren Vormarsch des weißen Königs zu verhindern.
131. Kh4 Dh6+ 132. Sh5 Dh7 133. e6! starkes taktisches Manöver – der Turm f5 darf wegen der Springergabel auf g7 nicht geschlagen werden, und bereitet im nächsten Zug Tf7 vor, gefolgt von Sf6+ oder Sg7+..
Dg6 134. Tf7! Kd8 (wenn Weiß den ungedeckten Bauern e6 schlägt, entsteht nach der Gabel Sg7+ Kxf7 Sxe6 Lxe6 Kg5 ein gewonnenes Bauernendspiel – weil nach Kf7 Kf5 Weiß die Opposition hat und den Bauern wie einen Rollkoffer hinter sich herzieht. In solchen Momenten wird klar, warum Thomas Beckers dieses elementare Endspiel so oft üben lässt – es kann wie wir sehen sogar die Weltmeisterschaft entscheiden!).
135. f5 Dg1 Die schwarze Dame versucht noch den weißen König mit Schachgeboten zu beschäftigen, aber 136. Sg7 ! und Schwarz gab auf – denn der weiße König spaziert nun, den Schachgeboten der Dame im Tangoschritt ausweichend im Triumphmarsch auf der g- und h-Linie über h7 bis nach g8, wo er vom Springer abgeschirmt ist, und dann ist der e-Bauer nicht mehr aufzuhalten – das wunderschöne Happy End eines oscarreifen Schach-Blockbusters mit Überlänge, spannend bis zum Schluss.
Ich glaube, über diese Partie lässt sich locker ein ganzes Buch und mehr schreiben.
Sie hat auf jeden Fall den Fortgang der Schach-WM 2021 und vielleicht auch kommender Weltmeisterschaften geprägt. Und 136 ist die neue magische Zahl …!