Kasparov jagt den Wanderkönig – Bericht vom Training 16.02.2021

Thomas Beckers zeigte uns beim Training am 16.02.2021 eine Partie vom damaligen Weltmeister Kasparov, die damals gefühlt „in jedem Schachclub“ nachgespielt wurde und überall für helle Begeisterung sorgte.

Weiß: Kasparov, Garry (Elo 2812) – Schwarz: Topalov, Veselin (Elo 2700)
Hoogovens-Turnier, Wijk aan Zee, 20.01.1999
1.e4 d6 ..die Pirc-Verteidigung, die von Topalov hier offenbar vor allem deshalb gewählt wurde, um Kasparovs gefürchtete Eröffnungsvarianten-Vorbereitung (z.B. Sizilianisch) auszuweichen
2.d4 Sf6 3.Sc3 g6 4.Le3 Lg7 …

Thomas wies darauf hin, dass die Pirc-Verteidigung im Aufbau zwar der Königsindischen-Verteidigung (1. d4 Sf6 2. c4 g6 3. Sc3 Lg7 4. e4 d6 ähnelt, aber doch ein ganz anderes Spiel ergibt, weil hier anders als beim Königsinder der weiße c-Bauer nicht auf c4 steht und die Bauerstrukturen im Zentrum daher unterschiedlich sind. Es ist nämlich sehr wesentlich, ob der d-Bauer hier noch durch den nachrückenden Bauern c3 gedeckt werden kann oder nicht – im letzteren Fall muss der d-Bauer, wenn er durch einen schwarzen Bauern angegriffen wird, entweder vorrücken oder abtauschen, und danach steht jedenfalls kein weißer Bauer mehr auf dem Zentralfeld d4. Es gibt also leider nicht die Universal-Eröffnung für Schwarz, die sowohl auf d4-c4 als auch e4-d4 gleichermaßen mit den immer gleichen Zügen gespielt werden kann, sondern es handelt sich um verschiedene Eröffnungskonzepte mit jeweils eigenen Plänen.

5.Dd2 .. hier aber nochmal eine auch gegen die Königsindische Verteidigung angewandte Idee: Mit der „Diagonalbatterie“ Dd2-Le3 zielt Weiß auf das Feld h6 und will dort seinen Läufer gegen den schwarzen „Fianchetto-Läufer“ abtauschen. Das ist für Schwarz ein echtes Problem, denn wer seinen Läufer in der Eröffnung nach g7 (bzw. g2) entwickelt, hat mit ihm meistens noch viel vor, u.a. soll der Läufer von dort sowohl nachhaltig das Zentrum kontrollieren als auch die kurze Rochade bzw. die Bauernstellung am Königsflügel stabilisieren – ein früher Abtausch ist deshalb unerwünscht. Herbert schlug daher auch vor, dass Schwarz sofort mit 5…Sg4 antworten sollte, um den weißen Läufer e3 von h6 fernzuhalten und ggf. zum Abtausch mit dem schwarzen Springer zu nötigen. Eine gute Idee, denn das wäre ein vorteilhafter Tausch für Schwarz, weil er den natürlichen weißen Fressfeind seines schwarzen Fianchettoläufers auf g7 beseitigen und letzteren dadurch stärken würde. Weiß wird sich darauf allerdings in der Regel nicht einlassen, sondern mittels 6. Lg5 h6 7. Lh4 ausweichen, um den Läufer nur gegen den gleichfarbigen Läufer von Schwarz abzutauschen, und letztlich müsste dann der Sg4 wieder den Rückzug antreten. Topalov hat hier mit Schwarz einen anderen Plan und spielt (laut meiner Datenbank) die Hauptvariante.

5….c6 6.f3
Auch 6. Sf3 oder sofort Lh6 sind gut für Weiß, Kasparov entscheidet sich hier dafür, erst den Zentrumsbauern e4 mit f3 fest einzubetonieren und ein solides Fundament für den weiteren Aufbau zu schaffen. Daran erkennt man, dass auch solche gewaltigen Angriffs- und Kampfspieler wie der damalige Weltmeister nicht einfach nach vorne stürmen und zaubern können, sondern sich positionell solide vorbereiten und absichern.

6…. b5 7.Sge2 Sbd7 8.Lh6 Lxh6 9.Dxh6 Lb7
Nun hat Weiß also den oben genannten Läufertausch vollzogen., bzw. Schwarz hat ihn zugelassen und bereitet nun zum Ausgleich die lange Rochade vor, wodurch die weiße Dame am Königsflügel deutlich weniger gefährlich wird. Noch ist alles im grünen Bereich der Theorie, Weiß hat höchstens leichte Vorteile, was aber ganz normal ist.
10.a3 11.0-0-0
Weiß rochiert ebenfalls lang, da bei entgegengesetzten Rochaden sowie dem schwarzen Läufer auf b7 und aufgrund des bereits gezogenen Bauern f3 die kurze Rochade im vorliegenden Fall leichter angreifbar wäre.
11…De7 12.Kb1
Wie Thomas nachdrücklich betonte, gehört dieser Zug als Ergänzung zur langen Rochade eigentlich immer dazu, er ist sozusagen „feuerpolizeiliche Pflicht“, weil sonst die Felder a1-a2 gegen schwarze Angriff ungeschützt sind. Außerdem macht dieser kleine Schritt des Königs nebenbei das Feld c1 frei und ermöglicht dadurch das folgende Springermanöver e2-c1-b3, womit Weiß seine „Reiterstaffel“ zum Angriff auf den schwarzen König am Damenflügel in Stellung bringt.

12…a6 13.Sc1 0-0-0 14.Sb3 exd4 15.Txd4 c5 16.Td1 Sb6 17.g3 Kb8 18.Sa5 La8
…auch diesen Fianchettoläufer will Schwarz nicht gerne abtauschen, sondern möglichst auf der Hauptdiagonalen a8-h1 behalten, wo er viele Felder kontrolliert.
19.Lh3 d5
Schwarz zieht nun den bisher rückständigen, passiven d-Bauern vor und sucht Ausgleich durch aktives Gegenspiel im Zentrum zu erlangen.
20.Df4+ Ka7 21.The1 d4 22.Sd5!
….der Springer ist hier zwar fünfmal von Schwarz angegriffen und nur einfach vom Bauern e4 gedeckt, trotzdem kann Schwarz beim Schlagabtausch nicht sofort den Bauern gewinnen, denn dieser schlägt auf d5 mit gleichzeitigem Abzugsangriff auf die Dame e7.
22… Sbxd5 23.exd5 Dd6


Der schwarze König steht zwar etwas luftig, doch es scheint, als ob hier Schwarz die Stellung nicht nur im Gleichgewicht halten, sondern nun sogar den Bauern d5 gewinnen könnte, z.B. nach 24. Dxd6, 24. Dd2 oder 24. Sc6, wonach jeweils Schwarz besser stünde. Jedoch:

Kasparov – Topalov, 1999
Stellung nach dem 23. Zug von Schwarz

24.Txd4! …
Ein Blitz aus heiterem Himmel! Kasparov spielte diesen Zug offenbar zunächst „nach Gefühl“ und rechnete erst während der folgenden 20-minütigen Nachdenkphase des Gegners die Folgen zumindest in den entscheidenden Varianten aus. Allerdings erscheint es selbst in der Analyse mit Hilfe des Computers kaum möglich, sämtliche möglichen Züge zu überschauen und richtig einzuschätzen, und Thomas erzählte uns beim Training, dass er beim Nachspielen der Partie jedes Mal noch etwas Neues für sich entdecken würde. Mein Computer hat übrigens das Turmopfer zwar noch als besten Zug für Weiß ermittelt, aber trotzdem die Stellung für Schwarz etwas besser oder höchstens ausgeglichen beurteilt. Offenbar ist Kasparovs Kombination hier so weitreichend, dass durchschnittliche Schachprogramme (gegen die unsereins allerdings regelmäßig verlieren wird) bereits an ihre Leistungsgrenze kommen – das erlebt man heutzutage auch nicht oft.

24…cxd4
Natürlich scheint die Annahme des Turmopfers verlockend und alternativlos zu sein, wer würde da nicht gerne zugreifen? Das deutlich kleinere Übel und somit der richtige Zug war hier jedoch 24…Lxd5 25.Txd5 Sxd5 26.Dxf7+ Sc7 27.Te6 Td7 28.Txd6 Txf7 29.Sc6+ Ka8 30.f4, wonach Weiß lediglich etwas besser steht – aber das muss man im Wettkampf am Brett erst einmal finden, und vor allem den folgenden Turmzug von Weiß kann man nach Thomas Beckers Worten „schonmal leicht übersehen“ bzw. falsch einschätzen, was Schwarz hier möglicherweise auch getan hat.

25.Te7+! … Auf den Blitz folgt der Donnerschlag! Ein zweites Turmopfer, das Schwarz aber nicht mit …Dxe7 annehmen darf, weil dann zwingend 26. Dxd4 + Kb8 27.Db6+ Lb7 28. Sc6+ Ka8 29. Da7 matt folgt. Hier zeigt sich der eigentlich Sinn von 25. Te7+: Weiß bietet ein Ablenkungsopfer an, um die schwarze Dame von der 6. Reihe wegzulocken und dadurch das Feld b6 als Einstiegsluke für die weiße Dame freizumachen – denn sofortiges 25. Dxd4+ scheitert am schwarzen .25…Db6.

25…Kb6
Der König tritt die Flucht nach vorne an, denn nach 25…Kb8 verliert Schwarz durch 26.Dxd4 Sd7 27.Lxd7 Lxd5 28.c4 Txd7 29.Txd7 Dxd7 30.Dxh8+ Kc7 31. cxd (Läuferverlust). Das Problem hier in fast allen Varianten von Schwarz: Der Turm auf h8 hängt, sobald sein Kompagnon auf der d-Linie von der Grundreihe wegzieht.

26.Dxd4+ Kxa5 27.b4+ Ka4 28.Dc3 …

Kasparov – Topalov, 1999
Stellung nach dem 28. Zug von Weiß

Der schwarze König ist zum Wandervogel geworden und am Rand eingezwängt, es droht schon Matt durch Db3, was die schwarze Dame mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Allerdings bot sich hier statt Dc3 für Weiß auch das sofortige Ta7! an, weil nun die schwarze Dame nicht die 6. Reihe verlassen darf, da Txa6 matt droht. Falls Schwarz mit Springer oder Läufer auf d5 schlägt wird er über b3 mattgesetzt, z.B. …Lxd5 29. Dc3 Ta8 30. Kb2! h5 31. Db3+ Lxb3 32. axb matt, was Schwarz dann jeweils nur durch Damenopfer etc hinauszögern, aber nicht verhindern kann. Nach 28… Ta7 hätte Schwarz allerdings noch 28…Lb7 spielen können, wo er nach meiner Analyse zwar Material verliert, aber noch auf Dauerschach spielen kann … das führt allerdings zu weit und war in der realen Partie zweifellos kaum auszurechnen.

28… Dxd5 29.Ta7 Lb7 30.Txb7 Dc4 31.Dxf6 Kxa3
Der schwarze König hat sich aus dem „Gefängnis“ befreit, doch er wird weiter übers Brett gejagt, bis zur gegnerischen Grundreihe! Die Alternative war 31…Td1+ 32.Kb2 Ta8 ( 32…Dd4+ 33.Dxd4 Txd4 34.Txf7 ) 33.Db6 Dd4+ 34.Dxd4 Txd4 35.Txf7 a5 ( 35…Td6 36.Td7 Tb6 37.f4 a5 38.Lg2 Taa6 39.c3 Te6 40.Lf3 Tad6 41.Txd6 Txd6 42.Le4 Td2+ 43.Lc2+ ) 36.Le6 axb4 37.Lb3+ Ka5 38.axb4+ Kb6 39.Txh7, wobei Schwarz jeweils nach erzwungenem Damenabtausch ein nachteiliges Endspiel mit Turm gegen Läufer und drei Bauern erwartet, was auf Großmeisterniveau wohl ziemlich hoffnungslos für Schwarz gewesen wäre.

32.Dxa6+ Kxb4 33.c3+ ! Kxc3 34.Da1+ !
… die einzige Möglichkeit, um weiterhin den schwarzen König zu jagen.

Kasparov – Topalov, 1999
Stellung nach dem 34. Zug von Weiß

34…Kd2
Nach 34 ..Kb4 würde Schwarz spätestens nach 36. Db2+ Ka5 37. Da3+ Da4 38. Ta7 die Dame verlieren.

35.Db2+ Kd1 36.Lf1! ….und wieder ein Ablenkungsopfer: Wenn Schwarz den Läufer mit der Dame schlägt, folgt Dc2+ Ke1 Te7+ De2 Dxe2 matt!

36…Td2 37.Td7!!

Kasparov – Topalov, 1999
Stellung nach dem 37. Zug von Weiß

Beide Damen sind angegriffen, doch statt sie zu tauschen und den weißen Turm zurück zu gewinnen, setzt Weiß noch einen mächtigen Schlussakkord drauf und bietet ein weiteres und letztes „Turmopfer“ mit gleichzeitiger Mattdrohung auf d2 an. Schwarz kann nun den Verlust seiner Dame nicht mehr verhindern, außerdem hängt auch noch der Th8 und geht verloren. Wahnsinn, bei all den gegenseitigen Angriffen, Fesselungen und buchstäblich in der Luft hängenden Figuren muss selbst dem geübten Auge schwindlig werden. Falls Kasparow das wirklich alles vorausberechnen konnte, ist das eine Geistesleistung auf allerhöchstem Niveau. Natürlich ist es vom Gefühl her fast immer richtig, den gegnerischen König ggf. mit Opfern ins offene Feld zu treiben, weil er da selten heil herauskommt, aber hier war ja immerhin schon ein ganzer Turm geopfert worden, und wenn man den nicht zurückgewinnt und nicht mattsetzen kann, worüber oft ein einziges kleines Detail in der Stellung entscheidet, nützt die schönste Kombination nichts. In der Partie folgte hier noch
37…Txd7 38.Lxc4 bxc4 39.Dxh8 Td3 40.Da8 c3 41.Da4+ Ke1 42.f4 f5 43.Kc1 Td2 44.Da7
und Schwarz gab auf.