Sizilianisches Schachtraining mit Thomas Beckers: Bobby Fischer, die Burg und die Bundesstraße

Beim ersten Online-Training im neuen Jahr am Dienstag, den 2.2.2021 zeigte Thomas Beckers uns erneut eine Partie von Bobby Fischer, bei der wir nicht nur tolle Kombinationen, sondern nebenbei auch wieder sehr viel über grundlegende Eröffnungsideen und Strategie im Mittelspiel lernten.

Weiß: Unzicker, Wolfgang
Schwarz: Fischer, Robert James
Schacholympiade 1962, Varna (Bulgarien)

1.e4 c5 ..
Schwarz wählt die Sizilianische Verteidigung, und schon dieser erste Zug ist eine Kampfansage, mit der Schwarz andeutet, dass er mehr will als nur ein Unentschieden. Wie Thomas immer wieder betont, ist das Besondere am „Sizilianer“, dass Schwarz (im Vergleich zu anderen Eröffnungen, wie sie z.B. nach 1. e4 e5 entstehen) den weißen Anzugvorteil nicht durch Verteidigung oder symmetrischen Aufbau versucht auszugleichen, sondern durch Angriff.

2. Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 …
Die drei letzten Züge von Weiß sind charakteristisch für „offenes Sizilianisch“, wobei Weiß sofort die Bauern d4/c5 tauscht, die d-Linie öffnet und den Weg für seine beiden Läufer frei macht. Im „geschlossenen Sizilianer“ hingegen wird statt Sf3 zuerst Sc3 gezogen, kombiniert  mit g2-g3 oder f2-f4, während der d- Bauer zurückgehalten wird bzw. nur bis nach d3 geht. Dadurch bleibt die weiße Bauernstruktur mit e4-d3 zunächst stabil und geschlossen und das Zentrum wird durch Weiß von der Seite bzw. den  Diagonalen angegriffen.

4….Sf6 5.Sc3 a6

Grundstellung der Najdorf-Variante

Mit diesem letzten Zug von Schwarz entsteht die Najdorf-Variante. Eine andere Möglichkeit ist z.B. 5.. g6, die sogenannte „Drachenvariante“, die aber für Schwarz auch nicht leicht zu spielen ist. Der scheinbar so bescheidene kleine Bauernzug ..a6 hingegen hat gleich mehrere Funktionen und wesentliche Vorteile:
a) er verhindert, dass einer der beiden weißen Springer c3 und d4 sowie der weiße Läufer nach b5 ziehen und dort den schwarzen Aufbau empfindlich stören. Dieses haben wird beim Training anhand der alternativen Variante von Schwarz 5…e7-e5? 6. Lb5+ und anschließend Sd4-f5… diskutiert – hier ist das Schach auf b5 sehr unangenehm, Schwarz muss Ld7 oder Sd7 ziehen, woraufhin der weiße Springer nach f5 geht und den hängenden Bauern d6 angreift, so dass sich Schwarz erstmal mühsam verteidigen muss.
b) er ermöglicht anschließend den Bauernvormarsch b7-b5, womit Weiß am Damenflügel eingeengt wird und sein Springer c3 unter Druck gerät, und bei folgendem b5-b4 müsste der Springer ggf. von c3 wegziehen und die Deckung ddes Bauern e4 aufgeben.
c) Außerdem kann nach a6 und b5 der schwarze Läufer auf die Hauptdiagonale nach b7 ziehen und dort ebenfalls den weißen Bauern e4 angreifen.

So bringt Schwarz mit diesem einen Bauernschritt auf der Außenbahn einerseits Stabilität in die Verteidigung und den Spielaufbau und leitet gleichzeitig einen dynamischen Angriff ein – der kleine Bauer a6 ist also eigentlich ein Riese und unheimlich wichtig für das Spiel, seine Rolle als „Außenverteidiger XXL+“ erinnert mich z.B. an den Fussball-Weltmeister Philipp Lahm bei der deutschen Nationalmannschaft…

6.Le2….
Hier gibt es eine Vielzahl von möglichen Zügen für Weiß, auf die Schwarz sich vorbereiten muss, das ist die Herausforderung, der sich Schwarz beim Spielen der Najdorf-Variante stellen muss, macht aber eben auch den Reiz des Spiels aus, weil es nie langweilig wird. Als Hauptvariante galt hier lange Zeit 6. Lg5, auch 6. Le3 („englischer Angriff“) wurde viel gespielt, aktuell ist interessanter Weise gerade 6. h3 „der letzte Schrei“ (Thomas)… da imitiert Weiß sozusagen auf der entgegen gesetzten Seite die schwarze Bauernstruktur und bereitet ggf. g2-g4 vor.

6….e5
– nun funktioniert der Doppelschritt mit dem e-Bauern für Schwarz ohne Probleme, weil Weiß weder mit Springer noch Läufer auf b5 angreifen kann. Falls der weiße Springer nach f5 zieht, hat Schwarz gleich mehrere Möglichkeiten zum Gegenspiel – z.B. geht dann 7… Lxf5 8. exf5 und Weiß hat einem leicht angreifbaren f-Bauern und Schwächen im Zentrum. Noch besser für Schwarz ist allerdings 7… d5! 8. Sxd5? (Weiß muss Sf5-g3 spielen) Sxe4. Weiß zieht daher den angegriffenen Springer d4 im folgenden Partiezug vernünftigerweise zurück, und Schwarz kann – eben wegen der stabilisierenden Rolle des Bauern a6 ! – ungestört seine Entwicklung fortsetzen.

7.Sb3
… das ist besser als der Rückzug 7. Sf3, weil Weiß nun ohne Verzögerung mit f2-f4 am Königsflügel angreifen kann und zugleich den schwarzen Aufmarschplänen am Damenflügel etwas entgegen setzt und sich vorbehält, mit dem Sb3 ggf . nach c5 oder a5 zu ziehen.

7…Le6 
.. heutzutage gilt hier 7.. Le7, gefolgt von der Rochade 8…0-0 als beste Variante, weil der frühe Läuferzug nach e6 dem Weißen erlaubt, mit Tempogewinn den f-Bauern in Marsch zu setzen – es droht dann f4-f5, wonach Schwarz den Läufer entweder zurückziehen oder zu ungünstigen Konditionen gegen den Sb3 abtauschen müsste (wie Stefans beim Training feststellte, hätte Schwarz nach Lxb3 kein richtiges Angriffsziel mehr, Weiß stünde besser). Falls Schwarz dieses mit e5xf4 verhindert, wird sein d-Bauer schwach („Isolani“) weil er keine eigenen Bauern auf den benachbarten e- und c-Linien mehr hat. Im Jahr 1962 war die Najdorf-Variante aber noch relativ neu und theoretisch noch nicht so standardisiert wie heute, und die Hauptvariante hat sich erst später in der Praxis herausgebildet.

8.0-0 …
Wolfgang Unzicker, damals einer der stärksten deutschen Großmeister (hauptberuflich aber Jurist und später Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht in München!) spielt hier sehr solide und bringt erstmal seinen König mit der kleinen Rochade in die sichere Burg (in der englischen Sprache heißt dieser Zug ja sehr treffend „castling“, da denkt man doch gleich an „the castle on the hill“, wo Ed Sheeran in seinem bekannten Song so gerne zurück wollte…). Wer etwas mehr Risiko gehen möchte, könnte in dieser Stellung mit Weiß auch über g2-g4 nachdenken. Das Problem bei solchen Abenteuern ist allerdings immer, dass der eigene König anfällig für gegnerische Schachgebote bleibt und man später eventuell keine Zeit mehr hat, ihn in Sicherheit zu bringen, wenn man die Deckung vernachlässigt. Das gilt erst recht in einer solchen relativ offenen Stellung wie dieser hier, wo die Brettmitte nicht mit Bauernketten versperrt ist.

8…Sbd7 9.f4 Dc7
Bobby Fischer reagiert auf den drohenden Angriff f4-f5, indem er mit der Dame auf c7 das Feld c4 unter seine Kontrolle bringt, so dass der Läufer e6 im nächsten Zug dorthin ausweichen kann – eine Flucht nach vorne, aber mit schlagkräftiger Rückendeckung! Heutzutage ist das ein Standardmanöver in dieser Variante des Sizilianers.

10.f5 Lc4 11.a4 Le7 12.Le3 0-0 13. a5 …
Weiß versucht mit diesem Zug, b7-b5 abzuwehren und droht zudem, sich bei Gelegenheit mit Le3- b6 im schwarzen Hinterhof dauerhaft festzusetzen – das verhindert Fischer, in dem er im folgenden Zug trotzdem den b-Bauern nach vorne wirft. Noch ein kleiner Exkurs: Falls Weiß hier statt a5 mit 13. g2-g4 am Königsflügel attackieren würde, sollte Schwarz sich dagegen mit einem Gegenangriff im Zentrum wehren, d.h. d6-d5, nach dem Motto: Bauernzentrum aufbrechen, Platz schaffen, Linien öffnen. Denn als Grundregel gilt allgemein: Bauernangriffe auf dem Flügel sind vor allem dann gefährlich für den Verteidiger, wenn das Zentrum zugebaut ist und z.B. wegen unbewegglicher Bauernketten dort nicht gespielt werden kann, weil dann die verteidigenden Figuren nicht so schnell dem König zur Hilfe kommen und kein schnelles Gegenspiel einleiten können. Ist dagegen das Zentrum offen, müssen beide Gegner stets auf Drohungen und Gegenspiel aus der Brettmitte und auf den zentralen offenen Linien achten, und die Brettränder verlieren an Bedeutung.

Unzicker – Fischer
Stellung nach dem 13. Zug von Weiß

13…b5 14.axb6 („en passant“ !) Sxb6 15.Lxb6 Dxb6+ 16.Kh1 Lb5 17.Lxb5 axb5 18.Sd5 Sxd5 19.Dxd5 …
Nach diesem Schlagabtausch am Damenflügel sind 3/4 aller Leichtfiguren vom Brett verschwunden und die Stellung hat sich vereinfacht, jedoch scheint hier Weiß auf dem ersten Blick etwas aktiver zu stehen, und Schwarz hat wenig Angriffsmöglichkeiten. Kaum zu glauben, dass Bobby Fischer nur 8 Züge später die Partie mit Pauken und Trompeten gewinnt!

Unzicker – Fischer
Stellung nach dem 19. Zug von Weiß

19…Ta4!
Schwarz kämpft um die wichtige a-Linie (die als einzige vollständig offen ist und dadurch – wie die B304 in Kirchseeon – die Hauptstrasse für den Schwerverkehr, d.h. die Türme darstellt). Der Plan von Schwarz ist offensichtlich, mit beiden Türmen und Dame auf der a-Linie eine „Batterie“ aufzubauen (Thomas hat dieses schon öfter durch den Vergleich mit einer Taschenlampe erläutert, wo sich die Kräfte von z.B. zwei hintereinander geschalteten Batterien summieren), und dann mit diesem mächtigen Schwerlast-Konvoi ins weiße Lager einzurollen. Natürlich tauscht Schwarz hier nicht die Türme auf a1 ab, weil danach Weiß mit seinem verbleibenden Turm auf a1 die a-Linie beherrschen würde.

20.c3 Da6…
Schwarz darf nicht sofort wie geplant 20…Tf8-a8 spielen, weil dann Weiß dann mit 21. Dxa8 Txa8 22. Txa8 zwei Türme für die Dame bekommt, was als materieller Vorteil gilt, außerdem erobert Weiß dadurch auch die a-Linie mit seinen Türmen und steht deutlich besser.

21.h3 …
Weiß schafft rechtzeitig ein “ Luftloch“ für seinen König, bzw. einen Notausgang, da Schwarz in Kürze mit seinen Figuren auf die Grundreihe gelangen und dort Matt drohen könnte. Geheimgänge, durch den die Majestäten bei Bedarf flüchten konnten, kennt man ja von vielen alten Schlössern und Geschichten, das gehört einfach zu einer echten Burg dazu. Und bei Neubauten ist der zweite Fluchtweg ohnehin aus feuerpolizeilichen Gründen vorgeschrieben… 

21..Tc8 22.Tfe1 h6..
… und auch Schwarz baut noch schnell ein Luftloch für den König ein, bevor er seine Figuren in den entscheidenden Kampf nach vorne schickt – denn wenn man diese Sicherheitsmaßnahme unterlässt, muss man immer mit einem Mattangriff des Gegners auf der Grundreihe rechnen und dort einen Verteidiger zur Absicherung aufstellen, der nicht wegziehen darf, kann also nicht alle Kräfte für den Angriff mobilisieren.

23.Kh2 Lg5

Unzicker – Fischer
Stellung nach dem 23. Zug von Weiß

24.g3? … Weiß will das Schach des schwarzen Läufers auf f4 verhindern, tut damit aber zuviel des Guten, denn nun fehlt seinem König der Schutz vor Schachs auf der 2. Reihe.

24… Da7 25.Kg2
…es drohte schon Da7-f2+, nun muss der König, nachdem er die Seitenwand seines Schlosses geöffnet hat, sich selber den Angreifern mit gezogener Waffe entgegen stellen.

25…Ta2 !  und sogleich die nächste Drohung auf die 2. Reihe – doch …Txb2+ ist nicht die einzige Gefahr für Weiß, sondern der Turmzug nach a2 hat noch weitere und viel hinterhältigere Absichten, wie im nächsten Zug deutlich wird …

26.Kf1 Txc3 !!

Unzicker – Fischer
Schlußstellung nach dem 26. Zug von Schwarz

…und nach diesem donnernden Einschlag gab Weiß als guter Verlierer die Partie bereits auf und schüttelte dem Gegner die Hand, weil die an allen Ecken auseinanderfallende Stellung nicht mehr zu halten ist, wie Großmeister Unzicker sofort erkannte. Denn 27. b2xc3 geht natürlich wegen Matt durch 27…Df2 nicht, und auf 27. Txa2 folgt das Schach mit …Tf3+ und weiter …Tf2+ und der weiße König wird übers Feld dem Matt entgegen gejagt, die weißen Figuren können im wesentlichen nur zuschauen. Von der weißen Burg ist nichts mehr übrig, und alle Straßen führen Schwarz direkt zum (bayrischen) König. So schnell werden im Schachspiel also manchmal Verkehrsprobleme gelöst…