Kurz vor Weihnachten steigt die Spannung, auch bei uns, daher hier nun die Analyse des Moskauer Partiefinales „Harmon – Borgov“ in der abschließenden Folge „Endspiel“ der Serie „Das Damengambit“.
Weiß hatte in der Diagrammstellung den starken Zug 37. Se6 ! gezogen, der in der gegenwärtigen Realität mithilfe der Computeranalyse gefunden wurde. Im Film hatten Beth Harmons Schachfreunde (frühere Konkurrenten, dann Unterstützer) aus den USA in rein menschlicher nächtlicher Teamarbeit diese Variante für sie ausgetüftelt und rechtzeitig vor der Wiederaufnahme der Hängepartie ünerraschend per Telefon übermittelt.

Wenn Schwarz hier den Springer mit Lxe6 schlägt, steht Weiß nach 38. d5xe6 offensichtlich besser. Aber Weltmeister Borgov spielt mit Schwarz im Film den stärksten Zug, nämlich 37…Ta4 und attackiert damit den für Weiß sehr wichtigen, weil ihre ganze Stellung zusammenhaltenden Zentrumsbauern e4. Den will Weiß natürlich gerne behalten – andererseits ist er schon zweifach angegriffen vom schwarzen Turm und Springer und kann momentan gar nicht sinnvoll von einer weiteren Figur gedeckt werden, ohne dass diese abgetauscht wird oder verloren geht. direkt weiter verteidigt werden. Aber was ist, wenn Weiß sich als Kompensation mit dem verlockenden Springerdoppelangriff den schwarzen Bauern g7 schnappt? Hier gibt es eine absolute Wahnsinnsvariante mit schärfsten Drohungen auf beiden Seiten, die zum Remis durch Zugwiederholung führt: 38. Sexg7 Sxe4 39. Se6 Sxg3! … Weiß darf den Springer nicht mit Sxg3 schlagen, weil dann seine Dame auf d3 hängt und von der schwarzen Dame g6 weggepustet wird! Doch Weiß kann mit dem genialen 40. Se7!! kontern, und erzwingt nach 40. …Dxd3 41. Tf7+ Kh8 42.Tf8+ usw Remis durch Dauerschach! Schwarz hat keine sinnvolle Alternative, denn wenn er statt der Dame den Springer mit 40. ..Lxe7 schlägt, folgt 41. Tf7!! (nun ist ist die schwarze Dame auf g6 gefesselt und darf sich nicht rühren!) Kh8 42. Dxg6 mit Matt im nächsten Zug durch z.B. 43. Dg7 oder Dh7 bzw. Th7.
Weiß will sich aber nicht mit einem forcierten Remis zufrieden geben, sondern weiter auf Sieg spielen. Daher folgt in der Partie nun 38. b2-b3. Der schwarze Turm muss wegziehen, er könnte z.B. nach a2 gehen, doch nach 38…Ta2 39. Tf2 Txf2 40. Lxf2 steht Weiß wiederum besser. Borgov tauscht daher nicht seinen starken Turm ab, sondern holt sich wie geplant mit 38..Txe4 den als Stabilitätsanker dienenden weißen Zentrumsbauern ab (falls Schwarz statt dessen mit 38…Sxe3 zugreifen würde, hätte Weiß nach 39. bxa Sxg3 … die gleiche Idee wie oben, wiederum hängt die weiße Dame auf d3, wenn Sxg3 erfolgt, …40.Sf5-e7!! Dxd3 41. Sf8+ Kh8 42. Sfg6+ ein weiteres forciertes Remis durch Zugwiederholung, weil der schwarze König nur noch zwischen h7 und h8 hin- und herziehen kann, wenn er nicht verlieren will).
Nun aber kontert Weiß mit 39. Sxd6 ! und droht durch die Springergabel 40.Se6-f8+ die schwarze Dame zu gewinnen, nachdem der das Feld f8 verteidigende schwarze Läufer auf d6 beseitigt ist. Daher geht 39…cxd nicht. Schwarz muss 39..Lc8xe6 spielen, und es folgt 40. dxe6 cxd6 41. e6-e7, siehe Diagramm.

Durch den Abtausch der Leichtfiguren auf e6 und d6 hat sich Weiß einen einen starken Freibauern verschafft, der einen Zug vor der Umwandlung steht. Allerdings hat Schwarz dafür ein ebenfalls sehr ansehnliches verbundenes Bauernpaar im Zentrum erhalten, und spielt nun 41…d6-d5. Ein weiterer kritischer Moment in der fiktiven Partie: Diesen Zug hatten Beth Harmons Sekundanten bei ihrer abendlichen Analyse in New York nicht vorhergesehen, d.h. von nun an ist sie wieder auf sich allein gestellt und muss ohne Vorab-Analyse improvisieren. Das tiefe Nachdenken wird im Film durch das Starren an die Decke des Turniersaals und geistiges Visualisieren übergroßer Schachfiguren dargestellt
Agadmator’s Chess Channel, der das Spiel analysiert hat, verweist hier auf eine weitere interessante Parallele zur realen Schachwelt: Niemand anders als Vassily Invanchuk selbst, der die Vorlage zu dieser Partie lieferte, ist dafür bekannt, bei Turnierpartien häufig nach oben an die Decke zu starren …
Der Zug 41….d6-d5 ist tatsächlich das Beste, was Schwarz hier machen kann, denn er verhindert die Kombination 42. Txf6 gxf 43. e7-e8D Dxe8, mit der Weiß spielentscheidend Material gewinnt (Die schwarzen Bauern reichen hier als Kompensation gegen den weißen Läufer nicht aus, zumal auch der schwarze b–Bauer schwach ist. Daher spielt Weiß 42. Le3-c5 , um den Freibauern e7 zu decken. Schwarz blockiert diesen mit 42..Dgl-e8, es folgt 43. Dd-f3 De8-c6 44. b3-b4. Hier begeht nun Schwarz seinen einzigen, aber spielentscheidenden Fehler in dem Filmdrama: Weltmeister Borgov zieht seine Dame mit 44…Dc6-e8 wieder zurück und bietet Remis an. Richtig wäre stattdessen 44…Kh7-g8 gewesen, wodurch Schwarz die Stellung im Gleichgewicht gehalten hätte. Nun aber lehnt das Weiß das Remisangebot ab und spielt 45. Df3-f5+ Kh7-h8 (45…Kg8 verliert offensichtlich sofort wegen 46. De6+ Kh7 47. Txf6 gxf 48. Dxf6, und das dann folgende Df8 erzwingt die Bauernumwandlung auf e8).

Und jetzt folgt die Krönung dieser fantastischen Partie sowie der Filmhandlung. Wie kann Weiß gewinnen? Antwort: Stilvoll mit einem Damenopfer! Die Idee ist die gleiche wie den zuvor diskutierten Varianten mit Txf6: Der das Umwandlungsfeld e8 kontrollierende sowie die f-Linie blockierende schwarze Springer (die wichtigste Verteidigungsfigur von Schwarz in dieser Stellung!) muss verschwinden, damit der weiße Bauer sich in eine Dame umwandeln kann. Doch während das Qualitätsopfer Turm gegen Springer sozusagen zu den Standardwerkzeugen der Schachtaktik gehört und das Investitionsrisiko dabei meist überschaubar bleibt, ist ein Damenopfer eine ganz andere Hausnummer – denn da haftest Du mit Deinem ganzen Vermögen, und wenn es schief geht, ist das Spiel ganz sicher aus! Daher ist es gar nicht so leicht, sich in dieser Situation tatsächlich für Dxf6 zu entscheiden, selbst wenn man schon die Idee hat, dass das klappen könnte. Aber wenn so wie hier der e-Bauer nur noch ein ganz kleinen Schubser braucht, um das ersehnte Umwandlungsfeld zu erreichen, dann muss man alles dafür tun – koste es was es wolle – um diesen letzten Schritt zu ermöglichen, und auch scheinbar völlig abgedrehte Züge in Erwägung ziehen, die man sonst nicht spielen würde. Die innere Bilanzbuchhaltung in unserem Kopf muss dann für einen Moment mal kurz Pause machen und die wagemutigen Zocker ans Ruder lassen, die alles auf Sieg setzen – dann aber auch gleich wieder alles nochmal durchrechnen, ob es auch wirklich funktioniert. Dieses Denken hat Beth Harmon im Film schon seit ihrer Jugend verinnerlicht, und so spielt sie:
46. Df5xf6!! gxf6 47. Txf6 und die Umwandlung des e-Bauern in eine neue weiße Dame ist nicht mehr zu verhindern! Schwarz versucht hier noch 47…De8-h5 Tf6-f8+ 48. Kg7 e7-e8D Te4-e2+ (nach Damentausch auf e8 erwartet Schwarz wiederum ein verlorenes Endspiel ohne Hoffnung) 49. Kg2-f1 Dh5xh3+, um durch das Opfer des eigenen Turms e3 irgendwie ein Dauerschach mit der Dame herausholen zu können (genau wie Thomas Beckers uns beim Training gelehrt hat: solange Du noch Schach bieten kannst, ist die Partie noch nicht verloren), doch nach 50. Kf1xe2 Dg2+ 51. Tf2 De4+ und 52. Kd2! hat es sich ausgeschachert und Weiß gibt auf, weil seine Dame nun nichts mehr tun kann und er in spätestens 6 Zügen matt gesetzt wird.
Was für eine Partie, auch wenn sie so am Schluß in der Realität leider nicht gespielt wurde! Doch wie wir gesehen haben, war vieles darin sehr realistisch, einschließlich der „standing ovations“ durch den Gegner am Schluß, was sich in ähnlicher Weise beim Weltmeisterschaftskampf Bobby Fischer – Boris Spassky 1972 in der 6. Partie ereignet hatte.
„Das Damengambit“ zeigt uns also Schach auf höchstem Niveau von seiner besten Seite und schreibt dabei selbst Schachgeschichte, indem sie historische (und zukünftige) Entwicklungen wie den Aufstieg eines weiblichen Schachgenies aufgreift und – genau wie in der oben gezeigte Partie – in entscheidenden Momenten verbessert und dadurch erst richtig zur Geltung bringt.