Der SCK-Adventskalender – 21.12.2020: Das Damengambit – Endspiel (Teil 1)

Nachdem wir hier zuletzt schon einige tolle Mattstellungen und die Partie des Jahrhunderts vorgestellt haben, geht es jetzt endlich zur entscheidenden Partie in der besten Netflix-Serie des Jahres 2020, und wohl besten Schachfilm aller Zeiten: „Das Damengambit“. Wie bereits zuvor erwähnt, wurde die entscheidende Partie, welche dort in der abschlienden Folge von Beth Harmon gegen Vasily Borgov gespielt wird. Beide sind fiktive Charaktere, allenfalls in Teilen inspiriert von Judith Polgar / Bobby Fischer (Beth Harmon) und Boris Spassky / Anatoly Karpov (Borgov). Aber die von Ihnen gespielte Partie beruhte bis zum 37. Zug auf einer realen Großmeisterpartie, nämlich einem Remis zwischen Vassily Ivanchuk und Patrick Wolff beim Biel Open 1993. Ausgewählt hat sie ein prominenter Berater des Films, und zwar niemand geringeres als Ex-Weltmeister Garri Kasparow, wie er in einem Interview beschrieb. Die Aufgabe bestand dabei für ihn darin, eine Partie zu finden, in der tatsächlich als Eröffnung das Damengambit gespielt wurde und die dann im Verlauf so spannend, kompliziert und dramatisch wird, wie es das Drehbuch des Films verlangt, und zugleich Schach auf höchstem, weltmeisterlichen Niveau bietet. Da mussten natürlich Datenbanken und Computeranalyse helfen, doch obwohl die gefundenen Stellungen angeblich noch nicht ganz so komplex waren wie Kasparow es sich gewünscht hatte (!), kann Ergebnis sich sehen lassen, Zuschauer und Schachexperten sind begeistert.

Wagen wir uns also an diese Partie, deren Schluß nur im Film gespielt wurde:

Vassily Ivanchuk – Patrick Wolff, Biel 1993

1.d4 d5 2.c4 ..

Das Damengambit (Grundstellung)

Das also ist die Grundstellung des Damengambits, einer schon sehr lange bekannten Eröffnung, die dem Film den Namen gab. Sie wurde schon in der um ca. 1500 verfassten „Göttinger Handschrift“ gezeigt, welche Ähnlichkeiten mit dem berühmten Schachlehrbuch des Luis Ramirez de Lucena von 1497 aufweist. Das Damengambit zählt in der Eröffnungssystematik zu den sogenannten „geschlossenen Spielen“, während die Eröffnungen, die mit 1. e2-e4 beginnen, „offene“ bzw. „halboffene“ Spiele genannt werden. Ich persönlich fand diese klassische Unterscheidung nie besonders überzeugend, sondern etwas irreführend, denn natürlich ist durch den ersten Zug nicht festgelegt, ob das Spiel sich später offen oder geschlossen entwickelt. In den vielen Eröffnungen gibt es einerseits relativ offene Spiele, andererseits aber auch ruhigere Varianten, wo die Stellung erst deutlich später geöffnet wird. In der Spanischen Partie oder der Sizilianischen Verteidigung (beide entstehen nach 1. e4) gibt es namentlich sowohl die „offene“ als auch die „geschlossene“ Variante. Dass die Stellung nach 1.e4 meist schneller geöffnet werden kann als nach 1. d4, stimmt jedoch schon, wenn wir z.B. an das „Schäfermatt“ denken: 1.e4 e5 2. Lc4 Lc5 3.Dh5 Sf6 4. Dxf7 matt (so verlor Beth Harmon ihre allererste Partie gegen ihren Mentor Mr. Shaibel im Keller des Kinderheims). Sowohl Läufer als auch Dame können hier schnell diagonal aus ihrer Garage heraus zum Angriff ziehen, andererseits bedeutet das Wegrücken des e-Bauern vom eigenen König auch Gefahr für ihn, weil die e-Linie früh geöffnet wird. Andererseits gilt aber immer auch der berühmte Lehrsatz des legendären FC Bayern-Trainers Giovanni Trappatoni aus seiner „Wut-Rede“ von 1998: „Offensiv ist wie wir machen im Platz!“ (oder so ähnlich), d.h. es kommt nicht nur auf die Anfangsaufstellung an, sondern was man daraus macht.

In der Filmszene war die Wahl des Damengambits durch Beth Harmon mit Weiß jedenfalls eine große Überraschung für das internationale Publikum in Moskau, weil sie vorher sonst mit Weiß fast immer 1.e2-e4 spielte, was ihren Ruf als kompromisslose Angriffsspielerin gefestigt hatte.

2… dxc4 … Schwarz nimmt das Gambit, d.h. das Bauernopfer an, welches allerdings kaum als echtes Opfer bezeichnet werden kann, weil jeder Turnierspieler mit elementaren Eröffnungskenntnissen weiß, dass Schwarz den Bauern bald wieder zurückgeben muss, um nicht deutlich in Nachteil zu geraten. Weiß könnte sogar gleich mit 3. Da4+ und 4.Dxc4 den sofortigen Rückgewinn erzwingen, aber dieser frühe Kraftakt der Dame ist gar nicht nötig, denn das Bäuerchen c4 läuft Weiß nicht weg, sondern fällt ihr im Zuge der nachfolgenden Figurenentwicklung ohnehin mühelos in die Hände. So auch in dieser Partie:

3.e4 (hier spielt Weiß am häufigsten Sf3, um den starken schwarzen Bauernzug e5 zu verhindern und dann später mit e2-e4, e2-e3 ggf. auch in zwei Schritten e2-e3-e4 ein starkes Bauern-Vollzentrum aufzubauen). Sc6 4.Le3 Sf6 5.Sc3 e5 6.d5 Se7 7.Lxc4 Sg6 8.f3 Ld6 9.Dd2 Ld7 10.Sge2 a6 11.Lb3 b5 12.a4 O-O 13.O-O De7 (Diagramm)

Harmon – Borgov (Ivanchuk – Wolff)

Beide Seiten haben die Entwicklung ihrer Figuren abgeschlossen und rochiert, nun beginnt das Mittelspiel. Weiß hat zwar durch den vorgeschobenen Bauern etwas Raumvorteil, jedoch ist das Zentrum von Schwarz durch den Bauern e5 blockiert, und mit den beiden Springern steht Schwarz am Königsflügel sehr solide. Die schwarzen Läufer schauen in alle Richtungen, und Schwarz kann dadruch am Damenflügel mit seinen Bauern angreifen. Die Stellung ist ausgeglichen mit Chancen für beide Seiten.

Fortsetzung folgt!